Zwischen Deindustrialisierung und Reshoring
Veränderte Standortmuster aufgrund turbulenter Zeiten
Das Jahr 2022 ist für die globalisierte Welt und damit insbesondere den Wirtschaftsstandort Deutschland ein Jahr der Extreme. Zu Beginn des Jahres standen noch die gerissenen Lieferketten in Fernost im Fokus und ein mögliches Re- oder Nearshoring-Szenario von ehemals nach Asien ausgelagerten Betrieben wurde breit thematisiert. Lediglich ein halbes Jahr später wird in der Berichterstattung eine mögliche Deindustrialisierung der heimischen Wirtschaft aufgrund der grassierenden Energiepreisentwicklung durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und in der Folge auch auf unsere Energieversorgung in Spiel gebracht. Beide Entwicklungen sind mögliche Szenarien und werden weder ganz noch gar nicht Niederschlag in der weiteren Entwicklung finden. Im Folgenden wird lediglich das Verteilungspotenzial für Re- und Nearshoring in Deutschland und Europa in der einen Spielart beider Szenarien skizziert.
Es war die Pandemie, die die Fragilität der Versorgungsketten zum ersten Mal für alle sichtbar gemacht hat. Doch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Folgeerscheinungen sind weitaus gravierender. Sie verschärfen das Problem der Unterbrechung von Lieferketten dramatisch. Die Lieferketten sind nicht so widerstandsfähig, wie man in einer globalisierten Welt angenommen hat. Als wäre dies nicht bereits genug, führen die geopolitischen Spannungen um Taiwan abermals vor Augen, dass die Werkbank der Welt nicht mehr so stabil ist, wie einst angenommen. Letztlich muss festgestellt werden, dass die Globalisierung, so wie wir sie seit Dekaden kennen, sich nicht einfach fortsetzen wird. Sie erfährt eine Neuausrichtung, die auch Auswirkungen auf den Logistikflächenbedarf haben wird.
Ist die Globalisierung bereit für einen Neuanfang? Newshoring-Potenziale in Europa
Die Pandemie hat eine Debatte darüber ausgelöst, dass Produktionslinien und Lieferketten verkürzt, differenziert und tendenziell wieder näher an die Verbraucher in Europa ausgerichtet werden müssen.
Das würde einen Paradigmenwechsel bedeuten. Die Pandemie allein wäre nicht Grund genug gewesen. Schließlich gab es gute Gründe, die Produktion nach China oder in andere asiatische Märkte zu verlagern. Die von der Pandemie gebeutelten Unternehmen hatten gehofft, dass sich die Dinge mittelfristig normalisieren würden. Eine Rückverlagerung der Produktion und die Inkaufnahme von Gewinneinbußen erschienen unrealistisch.
Doch die in immer kürzeren Abständen auftretenden und gravierender werdenden Krisen haben dafür gesorgt, dass die Hersteller ihren Kurs überdenken. Autonomie und Sicherheit haben für sie jetzt eine höhere Priorität. In der Produktion hat dies zu einem “China-plus-eins”-Ansatz geführt. Dabei wird ein chinesischer Produktionsstandort durch einen oder mehrere alternative Standorte ergänzt. Diese können in anderen asiatischen Ländern wie Malaysia oder Vietnam angesiedelt sein. Der “plus-eins”-Standort könnte aber auch in Europa liegen. Auch wenn es noch Einzelfälle sind, die Zahl der Beispiele nimmt zu. Die Art der Verlagerung oder Aufbau an zusätzlichen Logistikflächen kann variieren und werden unter dem Sammelbegriff „Newshoring“ subsumiert. Darunter fallen:
- Re-/Nearshoring: Die Verkürzung der Lieferketten kann sich in einer erhöhten Nachfrage nach Industrieflächen und aufgrund vor- und nachgelagerter Prozesse auch nach Logistikflächen niederschlagen. Teilweise ist auch mit einer zusätzlichen Nachfrage in den Kernmärkten der klassischen “Blue Banana”-Industrieregionen wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu rechnen. Also Länder, die früher vor allem ausgelagert haben und nun die Produktion zurückholen (Re-Shoring). Aufgrund der hohen Preisstrukturen (Löhne, Energie) in diesen Ländern sowie anderer Facetten wird eine Rückverlagerung in günstigere Märkte, vor allem in Osteuropa, aber auch in Nachbarländer (z. B. Türkei) ebenfalls eine häufige Option sein (Nearshoring).
- Lagerbedarf in der Produktion (Just-in-case-Lagerhaltung): Bis vor kurzem galt vor allem in der Automobilindustrie die Maxime der Just-in-time-Produktion und der Reduzierung der Lagerhaltung auf das absolute Minimum. Das hat sich in der Pandemie, aber auch im Ukraine-Krieg gerächt. Jetzt stehen die Produktionsbänder immer öfter still. Damit sich das nicht wiederholt, denken immer mehr Unternehmen um und bauen redundante Lieferketten auf. Auch die Reaktivierung der Lagerhaltung steht auf der Tagesordnung. Denn Produktionsstillstand ist kostenintensiver als Lagerhaltung.
- Konsum und Bevölkerungsangebot: Leere Regale in Supermärkten waren für die meisten Menschen in Westeuropa ein Novum. Der Brexit und vor allem die Pandemie haben die Systemrelevanz der Logistik deutlich gemacht. Dazu gehört eine erhöhte Lagerhaltung. Dies gilt jedoch nicht nur für die konsumorientierte Versorgung der Bevölkerung, sondern auch für die Katastrophenvorsorge. Strategische Vorräte an Medikamenten, Lebensmitteln und vergleichbaren Gütern waren schnell aufgebraucht, wenn sie überhaupt noch vorhanden waren. Hier gilt es gegenzusteuern und strategische Reserven zu bilden. Hierfür werden Lagerflächen benötigt.
- E‑Commerce: Die Pandemie hat sich als Booster für das veränderte Konsumverhalten entwickelt und das Bestellvolumen im Internet enorm gesteigert. Hierfür wurden massive Logistikflächen benötigt und auch neu geschaffen. Kurz vor Ausbruch des Ukraine-Krieges stand die Bevölkerung kurz davor, die während der Pandemie aufgestauten Konsumausgaben zu tätigen. Die hohe Inflation und die unsicheren Aussichten in Kriegszeiten führten jedoch zu einer Verlangsamung der Konsumausgaben, so dass derzeit in einigen Bereichen Überkapazitäten zu spüren sind. Doch dies ist nur eine Momentaufnahme. Im Grunde ist die Sättigungsgrenze im E‑Commerce noch nicht erreicht. Es gibt noch eine Menge zusätzlicher Nachfrage.
Wie geht es nun weiter?
Die derzeitige Situation ist eher durch eine abwartende Haltung gekennzeichnet. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass aus den genannten Gründen mittelfristig mit einer zusätzlichen Nachfrage nach Industrie- und Logistikflächen in Europa zu rechnen ist. Wie hoch diese Nachfrage sein wird, lässt sich derzeit kaum valide abschätzen. Auch sind die steigenden Energiekosten, die geringe Arbeitskräfteverfügbarkeit und die hohen Lohnkostenniveaus gravierende Aspekte, die die zaghaften Ansätze noch in Frage stellen könnten. Sofern die Aspekte jedoch weiter voranschreiten, lässt sich modellieren, wo das Potenzial vergleichsweise hoch oder eher niedrig ist.
Autor: Tobias Kassner, Leiter Research und Mitglied der Geschäftsleitung bei GARBE Industrial Real Estate GmbH